Jascha Horenstein

Der Dirigent Jascha Horenstein

 

Die einzigartige künstlerische Physiognomie des Dirigenten Jascha Horenstein, in seiner Bedeutung für die Interpretationsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu Lebzeiten von Wenigen nur erkannt, erschließt sich nahezu vollkommen durch seine Schallplatten–Aufnahmen. Die Fülle der glücklicherweise erhaltenen Live–Mitschnitte, in meist gut klingenden CD–Überspielungen, tragen ein Übriges zum Bild eines Dirigenten bei, dessen Art zum herkömmlichen Kapellmeister […]völlig disparat stand, […]dem die Musik zum Explosionsstoff wurde” (Adorno).

Schon als Kind lernt Horenstein, geboren am 6. Mai 1898 in Kiew, ein unstetes Wanderleben kennen. 1907 zieht die Familie Horenstein zunächst nach Königsberg, wo er ersten Violinunterricht von der Mutter erhält und vom städtischen Musikdirektor Max Brode gefördert wird. 1911 folgt die Übersiedlung nach Wien. Adolf Busch wird Horensteins Violinlehrer, bei Franz Schreker studiert er Komposition am Konservatorium. Ein Philosophie–Studium an der Universität kommt hinzu. 1920 folgt Horenstein Schreker nach Berlin und schließt sich dort bald dem Kreis um Ferruccio Busoni an.

Horensteins Tätigkeit als Dirigent beginnt als Nachfolger Hermann Scherchens bei dem Arbeiter–Chor Groß-Berlin und dem Berliner Schubert–Chor. Sein Debut als Orchesterdirigent gibt er 1923 bei den Wiener Symphonikern u.a. mit Gustav Mahlers 1. Symphonie. Wilhelm Furtwängler wird auf den talentierten jungen Dirigenten aufmerksam, macht ihn zeitweilig zu seinem Assistenten. Für Furtwängler-Konzerte studiert er Béla Bartóks 1. Klavierkonzert mit dem Komponisten am Klavier ein und leitet, in Anwesenheit von Carl Nielsen, die Proben für dessen 5. Symphonie, die später zu einem Schwerpunkt seines
eigenen Repertoires werden sollte. Erstmals am Pult der Berliner Philharmoniker steht Horenstein 1926, um mit ihnen bereits zwei Jahre danach eine, aus heutiger Sicht, unglaubliche Serie bahnbrechender Aufnahmen zu machen, darunter die 7._Symphonie von Anton Bruckner, die erste elektrische Aufnahme einer Bruckner–Symphonie überhaupt.

Dank Furtwänglers Vermittlung wird Horenstein 1928 zunächst erster Dirigent, ein Jahr später dann Generalmusik-direktor der Düsseldorfer Oper. Während der fünf Jahre an einem der wichtigsten Opernhäuser Europas etabliert er sich mit spektakulärem Erfolg als Wagner–Dirigent und macht sich einen Namen als Anwalt der zeitgenössischen Oper – beispielsweise als Dirigent der Düsseldorfer Erstaufführung von „Wozzeck″ in Anwesenheit Alban Bergs. Auch international erregt der junge Dirigent große Aufmerksamkeit, vor allem durch Konzerte in Paris.

Gleichwohl sollte Düsseldorf die einzige Chefposition bleiben, die Horenstein je in seiner langen Laufbahn inne hatte. Bereits 1930 beginnen die Nationalsozialisten, Stimmung gegen den „russischen Juden aus Kiew″, zu machen, obwohl Horenstein seit 1929 die preußische Staatsangehörigkeit besaß. Als die Situation für ihn und seine junge Familie lebensbedrohlich wird und die Nazis ihn aus dem Amt jagen, flüchtet er im März 1933 nach Paris.
 
Was folgt, könnte man die Wanderjahre Horensteins durch die Welt nennen: Australien, Neuseeland, Rußland, Palästina, Venezuela, Mexiko – überall und nirgends ist der genialische Dirigent zu finden. 1947 kehrt er nach Europa zurück. Erstmals seit 1929 sieht man ihn im Jahr 1950 wieder in einem Schallplattenstudio. Für die amerikanische Firma VOX macht er über zehn Jahre eine Fülle von Aufnahmen, von denen viele bis heute Referenzstatus besitzen

wie Béla Bartóks 2.Violinkonzert mit dem jungen Geiger Ivry Gitlis oder Gustav Mahlers 9. Symphonie mit den Wiener Symphonikern.


1950 dirigiert Horenstein in Paris die französische Erstaufführung von Alban Bergs „Wozzeck″, 1959 in der Londoner Royal Albert Hall mit dem London Symphony Orchestra die 8. Symphonie von Gustav Mahler, eine legendäre Aufführung mit 756 Mitwirkenden und über 6000 Besuchern, deren Bedeutung für die Mahler-Renaissance in England kaum zu überschätzen ist. Horenstein wird zu einem der gefragtesten Dirigenten Großbritanniens. Regelmäßig steht er an den Pulten der Londoner Orchester und wird beim London Symphony Orchestra (inoffizieller) ständiger Gastdirigent. Exemplarische Aufnahmen von Mahlers 1. und 3. Symphonie oder Tschaikowskys „Pathétique″ dokumentieren nachdrücklich Horensteins intensive Beziehung zu diesem Orchester. So hat sich der eigenwillige Philosoph mit dem Taktstock, der künstlerisch nirgendwo wirklich Wurzeln zu schlagen vermochte, bei einem internationalen Spitzenorchester am Ende doch noch etabliert.


Mittlerweile erfährt Jascha Horenstein, der große Außenseiter unter den bedeutenden Dirigenten des 20. Jahrhunderts, mehr und mehr die Beachtung, die ihm zu Lebzeiten oft versagt blieb. Er starb am 2. April 1973 in London. Die Aura seiner interpretatorischen Meisterschaft manifestiert sich in einer umfangreichen Diskographie, deren absoluter Gipfel die Aufnahme der 3. Symphonie von Gustav Mahler mit dem LSO darstellt – bis heute unerreicht und eindringlicher Beleg für Horensteins Ausnahmerang als Mahlerinterpret.

Wolf Zube

Zurück | Vorwärts